Das Problem mit dem Solarstrom vom Dach;
Aus dem NZZ-E-Paper vom 28.07.2025; David Vonplon, Jannik Belser
Der Strompreis ist wegen der Erneuerbaren häufiger negativ als je zuvor – trotzdem erhalten die Besitzer kleiner Solaranlagen fixe Vergütungen.
Sie sitzen auf den Dächern von Einfamilienhäusern, verkleiden die Fassaden von Industriebetrieben: Schweizweit gibt es immer mehr Solaranlagen – von der Strombranche vorangetrieben unter dem Slogan «Jede Kilowattstunde zählt». Gerade im Sommer liefern die Anlagen viel Strom. Zu viel?
An der Strombörse, wo sich Grosshändler mit Energie eindecken, wird der Strompreis stündlich ermittelt. Übersteigt das Angebot die Nachfrage, fällt er ins Negative. Die Abnehmer bekommen dann sogar Geld, wenn sie sich mit Strom eindecken – sie verhindern damit nämlich, dass das Stromnetz aufgrund eines Überschusses zusammenbricht.
Es ist eine Kuriosität, die immer häufiger vorkommt: In der ersten Hälfte des laufenden Jahres gab es während 237 Stunden ein Überschussangebot. Energieversorger rechnen damit, dass es übers gesamte Jahr 400 Stunden negative Strompreise sein werden. Verglichen mit den Vorjahren ist das ein Rekordwert. Auch fallen die Preise tiefer als je zuvor: Am 11. Mai um 14 Uhr etwa verdienten Kraftwerksbetreiber kein Geld, wenn sie Strom absetzten. Sie mussten gar 26 Rappen bezahlen, um eine Kilowattstunde loszuwerden.
Falsche Anreize
Die Häufung der negativen Strompreise hängt mit dem Umbau des Energiesystems zusammen, der in ganz Europa stattfindet. Je weiter der Ausbau der Erneuerbaren voranschreitet, desto wechselhafter wird die Stromproduktion: Mal gibt es mehr, mal weniger Strom. In einem liberalisierten Strommarkt, etwa in Deutschland, können die Haushalte von den zeitweise negativen Strompreisen profitieren, indem sie zum Beispiel ihr Elektroauto zum Nulltarif laden. Nicht so in der Schweiz: Da für die Stromkunden in der Grundversorgung jährlich festgelegte Preise gelten, zahlen diese im Schnitt weiterhin rund 30 Rappen pro Kilowattstunde Strom.
Zahlreiche Experten kritisieren, dass der Schweizer Strommarkt und seine Regulierung dem neuen Umfeld nicht gerecht wird. Schlimmer noch: Mit falschen Anreizen wird die Problematik sogar noch verschärft.
Die Photovoltaik ist in der Schweiz in letzter Zeit in rasantem Tempo gewachsen: 300 000 Solaranlagen liefern in der Schweiz inzwischen Elektrizität – für das laufende Jahr rechnet der Fachverband Swissolar, dass sie nicht weniger als 14 Prozent des Jahresbedarfs der Schweiz decken. Die Solarkraft ist damit auf gutem Weg, neben der Wasserkraft und der Kernkraft zu einer tragenden Säule der Stromversorgung zu werden.
Doch das Wachstum der Photovoltaik hat auch eine Kehrseite. So zeigt sich mit dem fortschreitenden Ausbau, dass insbesondere kleinere Photovoltaikanlagen von Privatbesitzern zu einer Gefahr für die Stabilität des Stromnetzes werden. Das Problem: Die Einfamilienhausbesitzer speisen ihren Sonnenstrom auch dann ein, wenn er von niemandem gebraucht wird – was erst recht zu einem Überangebot führt.
Energieversorger üben Kritik
Die Marktpreise zu «spüren» bekommen die Besitzer kleinerer Anlagen nicht: In der Schweiz sind die Netzbetreiber gesetzlich verpflichtet, ihren Strom abzunehmen und zu vergüten. Dabei erhalten die Solarstromproduzenten auch in Phasen mit negativen Preisen für jede Kilowattstunde eine Entschädigung, da die Preise jeweils für drei Monate festgelegt werden. Ab 2026 haben sie einen Anspruch auf einen Minimaltarif von 6 Rappen pro eingespeiste Kilowattstunde. Dies, um sicherstellen, dass sich die Investition in eine Solaranlage lohnt.
Diese Fehlanreize stellen die Energieversorger vor grosse Herausforderungen. «Wir stellen fest, dass die Vergütungen immer stärker von der Marktrealität abweichen», sagt Thomas Reithofer, Leiter Netze bei der Axpo-Tochter CKW. Gerade jetzt im Sommer falle der Strompreis an sonnigen Tagen oft bereits vor 10 Uhr morgens in den Minusbereich – erst gegen Abend dann erhole er sich und steige wieder über null. Es sei ein «volkswirtschaftlicher Irrsinn», dass Energieversorger in solchen Phasen die Besitzer von kleinen Solaranlagen mit einem Minimaltarif entschädigen müssten, sagt Reithofer.
Über 4 Millionen Franken kostet es die CKW jährlich, den überschüssigen Strom aus dem eigenen Versorgungsgebiet loszuwerden, schätzt Reithofer. Er nennt das Kosten für die Entsorgung von Strom, den niemand will.
Hinzu kommt die Schwierigkeit, die Sonneneinstrahlung jederzeit richtig vorherzusagen. «Zieht unvorhergesehen eine Wolkenbank durchs Mittelland, können an Sommertagen auf einen Schlag 20 Prozent der Stromproduktion wegfallen», sagt Reithofer. Solche Vorkommnisse würden nicht nur den stabilen Netzbetrieb beeinträchtigen, sondern auch den Netzausgleich enorm verteuern.
Konsumenten zahlen Kosten
Schwankten die Kosten für die Ausgleichsenergie davor jahrelang zwischen etwa 50 bis 80 Millionen Franken, explodierten sie 2024 schweizweit gemäss der Netzgesellschaft Swissgrid auf 375 Millionen Franken. Es sind Kosten, welche die Energieversorger nicht selber bezahlen, sondern die Konsumenten in Form von höheren Strompreisen berappen.
Kritisch sieht man die Situation auch bei der Energieversorgerin Groupe E: «Hierzulande lässt sich praktisch keine Solaranlage ansteuern, um ihre Produktion bei Bedarf zu reduzieren», sagt Peter Cuony, Spezialist für die Stromnetze beim Westschweizer Stromunternehmen. Dies stelle bereits heute ein Problem für das Netz dar. Mit der Zunahme der Anzahl Solarmodule werde sich die Situation weiter verschärfen. Die Schweizer Stromnetze könnten eine maximale Leistung von etwa 10 Gigawatt absorbieren. Die Energiestrategie jedoch sehe bis 2050 eine Photovoltaikleistung von etwa 40 Gigawatt vor. «Weit mehr als das, was die Netze und der nationale Verbrauch aufnehmen können», sagt Cuony.
Besorgt zeigt sich auf Anfrage auch die Aufsichtsbehörde Elcom: «Bei anhaltendem Ausbau der dezentralen Stromproduktion nehmen auch die Risiken in Zusammenhang mit der Netzstabilität zu», sagt die Sprecherin Antonia Adam. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen würden kaum Anreize für exakte Produktionsprognosen und eine marktnahe Steuerung bestehen. Als Nachteil im Vergleich zum Ausland erweist sich laut der Elcom, dass in der Schweiz aufgrund der fehlenden Marktöffnung Preissignale für die Verbraucher und die Produzenten eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Dabei fehle vor allem kleinen Solaranlagenbesitzern der Anreiz, die Produktion bei negativen Preisen zu drosseln.
Umdenken setzt langsam ein
Jürg Grossen, Präsident des Branchenverbands Swissolar, räumt ein, dass mit den vielen Solaranlagen tatsächlich neue Herausforderungen auf das Stromsystem zukommen würden. Die Warnungen der Energieversorger hält er jedoch für überzogen. «Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, wirtschaften die meisten der über 600 Elektrizitätswerke in der Schweiz immer noch so wie vor 50 Jahren», sagt der GLP-Chef. In der Nacht schalteten diese jeweils Warmwasserboiler und Elektrospeicherheizungen ein, am Mittag dann seien Waschmaschinen oder Wärmepumpen oft gesperrt – «also just dann, wenn am meisten Solarstrom produziert wird». Das sei aus der Zeit gefallen.
Da die Netzbetreiber sämtliche Kosten auf ihre Kunden abwälzen könnten und dazu noch eine Marge draufschlagen würden, passten viele ihr Geschäftsmodell noch nicht an, beklagt Grossen. Er fordert, dass die Energieversorger von ihnen gesteuerte Elektro- und Wärmepumpenboiler einschalten, wenn es viel Strom hat und die Preise tief sind.
Laut Grossen verfügen die Netzbetreiber mit dem Stromgesetz zudem bereits über das nötige Instrumentarium, damit die Besitzer von Solaranlagen ihren Verbrauch intelligent und netzdienlich steuern können. Doch nutzten die Stromunternehmen dieses kaum. «Fast alle Versorger verlangen von ihren Kunden nach wie vor fixe Tarife, statt die Preise je nach Bedarf dynamisch anzupassen.»
In der Strombranche setzt jedoch nach und nach ein Umdenken ein. Im Juni gab die Zürcher Versorgerin EKZ bekannt, dass sich Kunden per 2026 für einen dynamischen Stromtarif entscheiden können, der sich alle 15 Minuten ändere. Ziel sei es, damit die Einspeise- und Verbrauchsspitzen zu reduzieren. Bereits über ein solches Tarifmodell verfügen zudem die Groupe E und Primeo Energie.
Auch die Axpo-Tochter CKW plant, künftig ein solches Tarifmodell einzuführen. «Soll das Netz entlastet werden, braucht es dynamische Preise», sagt Thomas Reithofer. Davon profitierten nicht nur die Netzbetreiber, sondern auch Kunden mit flexiblem Stromverbrauch. In Phasen mit tiefen Preisen könnte der selber produzierte Strom für Boiler, Batterien oder Wärmepumpen genutzt werden, bei höherem Bedarf könnte er ins Netz eingespeist werden.
Geschäft liegt beim Nationalrat
Derweil sucht auch das Parlament nach Lösungswegen. In den Räten wird derzeit darüber diskutiert, ob sich die Vergütung von Solarstrom künftig stärker an den Preisen am Strommarkt orientieren muss. So sollen die Versorger bei negativen Strompreisen die Möglichkeit erhalten, von den Minimalvergütungen abzusehen. Der Ständerat hat sich in der Sommersession bereits dafür ausgesprochen, nun liegt das Geschäft beim Nationalrat.
Für die Hauseigentümer mit einer Solaranlage auf dem Dach sind das keine guten Nachrichten: Sie können nicht länger damit rechnen, künftig jederzeit und unabhängig vom tatsächlichen Bedarf für ihren Sonnenstrom entschädigt zu werden. Zumal die Netzbetreiber ab 2026 auch 3 Prozent der Jahresproduktion einer Solaranlage abregeln dürfen, um das Netz zu entlasten. Die Zeiten, in denen jede neue Kilowattstunde Solarstrom von der Politik abgefeiert wurde, scheinen vorbei.